Vielstimmiger Wohlklang

Der noch junge Kammerchor “Vokalkunst” gab am Freitagabend im Spitalhof ein Konzert.

Reutlingen. „Vokalkunst” nennt sich ein junger Kammerchor aus Tübingen, der am Freitag im voll besetzten Reutlinger Spitalhofsaal auftrat. Die Leitung hat Daniel Radde, der bis zum Vorjahr acht Jahre lang den Reutlinger LiCo-Chorverein dirigiert hat. Wer seinem Verein den Namen „Vokalkunst” gibt, muss sich an diesem Anspruch messen lassen. Angesichts der großen Zahl guter Vokalensembles in der Region ist das nicht einfach; gerade Tübingen scheint ein fruchtbarer Boden dafür zu sein.

Über „subtile Eleganz und künstlerische Raffinesse” verfügt angeblich dieser Kammerchor. Das ist schwierig zu verwirklichen, wenn die 11 Sängerinnen und 7 Sänger in einem Raum wie dem Spitalhofsaal singen, wo die trockene Akustik jedes Detail ungeschönt offenlegt. Ein bisschen Kirchenhall anstelle der farbigen Scheinwerfer hätte das Ergebnis sicher verschönert. Als problematisch erwies sich auch die Besetzung: Bei sechs sehr starken Sopranen gegenüber nur drei Tenören ist die Balance immer wieder gefährdet.

Das Programm bot geistliche und weltliche A-cappella-Literatur aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Wer nun auf radikal Neues hoffte, sah sich enttäuscht: Die ausgewählten Chorkomponisten schreiben ihre Musik im traditionellen Stil, angereichert durch farbige Harmonik und flotte Rhythmen. Man konnte also gefällige, kundig geleitete und diszipliniert ausgeführte A-Cappella-Musik erleben, unterbrochen durch extravagante „Ausreißer” und die Ansagen von Jonathan Steinestel.

Am Anfang stand geistliche Musik von MacMillan, Močnik und Strohbach. Die sakrale Aura kam trotz der konzentrierten Ausführung aufgrund der Wohnzimmer-Atmosphäre des Spitalhofsaals kaum zur Entfaltung, umso opulenter das vielstimmige Crescendo der „Acclamatio”. Zwar biblisch inspiriert, doch ein theatralischer Kontrast war der „Judaskuss”: Die balladenhafte Gedichtvertonung wird illustriert durch krachendes Aufstampfen, scharfe Einwürfe und grelles Fortissimo; am Ende singt Judas trocken „I hanged myself”. Ein sanfter Zweizeiler nach Shakespeare leitete über zu Trottas „Dies Irae”, einer Art Schnell-sprech-Exerzitium, ebenfalls akzentuiert durch Stampfen.

Ein ungewöhnliches Chorwerk bildete die Mitte: die „Numbers” von Shruti Rajasekar, einer in-disch-US-amerikanischen Komponistin, die damit das Thema „Zahlen” umgesetzt hat. Nach Abschnitten für das 60er- und das Dezimalsystem widmet sich der dritte Teil dem binären System:

Zurück zu traditionellen Chorklängen ging es mit Beatriz Coronas „Penas”, das in rhythmischem Schwung vom Leid zur Hoffnung führt und Flavio Bundis „Il grond silenzi”, einer vielstimmigen Huldigung an die Stille der Bergwelt. Eine kleine tänzerische Shakespeare-Vertonung leitete über zum Schlussteil mit drei volkstümlichen bzw. Pop-inspirierten Stücken, umgesetzt mit viel Harmonie und Wärme, vom Mädel mit dem Rosenmund über die niedliche Wäscherin bis zu Fultons effektvollem „Prometheus”, der das Können des Kammerchors mit leuchtenden Akkorden, feurigen Rhythmen und bis zu achtstimmigem Vielklang ins rechte Licht rückte. Viel Applaus, Bundis „große Stille” als Dreingabe.

Quelle: https://www.swp.de/autor/susanne-eckstein-67361753.html

Dr. Susanne Eckstein, Südwest Presse, Reutlingen, 09. Februar 2024

Kammerchor Vokalkunst