Das Ensemble Vokalkunst stellte sich mit neuesten A-cappella-Chorwerken vor.
Tübingen. Es gibt einen neuen Kammerchor in Tübingen. Initiator und künstlerischer Leiter ist Daniel Radde, der zuvor acht Jahre lang den Reutlinger LICO-Chorverein dirigiert hat. Mit “Vokalkunst” hat er nun im Januar sein eigenes Ensemble gegründet. Das Chorprofil: ambitionierte A-cappella-Programme mit Schwerpunkt auf dem allerneusten Repertoire. Die aktuell 15 Sängerinnen und Sänger – allesamt chorerfahren und geübt – kommen zu den wöchentlichen Proben in der Lindenbrunnenschule bereits gut vorbereitet, sodass gleich intensiv und effizient an Details gefeilt werden kann. Seit seiner Gründung ist das rührige Ensemble schon mehrfach bei der „Musik zur Marktzeit” in der Jakobuskirche und der „Mittagsmusik” in St. Johannes aufgetreten. Eine clevere Strategie, sich rasch einen Namen zu machen. So war die Martinskirche beim ersten größeren Vokalkunst-Konzert mit über 150 Zuhörern gut besucht.
Ein abwechslungsreich internationales, gesangstechnisch anspruchsvolles Programm, dramaturgisch professionell durchkomponiert. Die Konzertstunde je zur Hälfte mit geistlichem und weltlichem Repertoire, darunter manche Erstaufführung. Frank Tichelis Friedensbitte „Earth Song” mit langen hinausgezögerten Auflösungen, Ernani Aguiars 150. Psalm „Lobet Gott in seinem Heiligtum” mit rhythmisch „trommelnden” Vokalisen und Arvo Pärts klangmystische Marienerscheinung „Drei Hirtenkinder aus Fatima”. Ein makellos intonationsreiner, transparenter Chorklang, staunenswert homogen zumal die fünf Männerstimmen.
Alles mit großer Präzision und geschulter Atemführung gesungen.
Chorleiter Daniel Radde, 32 Jahre alt, studiert in Tübingen Theologie und Literaturwissenschaft. Als Schüler hat er in der preisgekrönten Altensteiger Christophorus-Kantorei eine profunde sängerische Ausbildung genossen und anschließend in Karlsruhe Gesang studiert.
Das „älteste” Stück im Programm und zugleich aus der klassischen Moderne war Rudolf Mauersbergers Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst”, uraufgeführt im August 1945 in den Ruinen der Dresdner Kreuzkirche. Die Expressivität kam auch hier allein aus der sängerischen Präzision der Details, ohne den Ausdruck zusätzlich zu forcieren. Dissonante Schärfen, klar artikulierte Textverständlichkeit. Das übrige Programm war postmodern, neotonal – etwa Eleanor Daleys „Upon you heart” und Susan LaBarrs „Grace before Sleep” mit seidig lichten Klangtexturen oder Matthew Harris’ zauberhafter Shakespeare-Walzer „Tell me where is fancy bred”. Beatriz Coronas achtstimmige Sklavenbefreiungs-Motette ,,Penas” wurde mit zunehmender Freiheit immer schneller.
Am interessantesten – und etwas experimenteller – waren Siegfried Strohbachs „Jesus, der Retter im Sturmwind” mit strudelnden Wellenkreisen und ruhiger Windstille oder Gabriella Gullins “Tyst är det rum” (“Leise ist der Raum”), mit fragmentierten Melodien und viel gerahmter Stille dazwischen. Zuletzt ein vergnüglicher Ausklang mit vier Volkslied-Bearbeitungen, darunter Aide Kumars munter galoppierendes slowenisches Hochzeitslied „Dajte, dajte” und Volker Wangenheims „Vogelhochzeit”: Ornithologie nach Noten – nebst Brautmutter Eules Trauerchoral, Kuckucksruf und Hahnenschrei. Gleich mit dem ersten einsetzenden Beifall erhob sich schon ein Großteil des Publikums.
Quelle: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Schwerpunkt-auf-dem-allerneuesten-Repertoire-593489.html
Dr. Achim Stricker, Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 30. Juni 2023