Prometheus’ Fackellauf

Der Kammerchor “Vokalkunst” mit neusten A-cappella-Werken.

Tübingen. Einst stand hier der Braukessel des Sudhauses. Darum ist der Raum zehn Meter hoch – und hat gar keine schlechte Akustik. Die hallige Resonanz gibt dem Chorklang genug Raum, um sich zu mischen und zugleich durchhörbar zu bleiben. Vokalkunst erprobt gern neue Klang-Räume: In der Sudhaus-Galerie „Peripherie” sind sie der allererste Kammerchor. Mit gut 80 Zuhörern ist das Konzert fast ausverkauft.
Vokalkunst ist ein Entdecker-Ensemble, Tübingens neuer Erstaufführungs-Chor, 2023 gegründet.

Chorleiter Daniel Radde hat wieder findig recherchiert und neuestes, anspruchsvolles A-cappella-Repertoire zusammengestellt. Darunter ein „Dies irae” von John Trotta, der das Jüngste Gericht in schneller Rhythmik und abrupten Akzenten hereinbrechen lässt. Oder ein „Cor meum” von Patricia Van Ness, deren Musik in älteren Traditionen wurzelt: Aus einer choralartigen Grundlinie wachsen irisierende Klangblüten heraus, öffnen sich zu facettierten Prismen. Radde hat ein engagiertes und intonationssicheres Ensemble zur Verfügung, am Samstag in verkleinerter, 14-köpfiger Besetzung, je sieben Frauen- und Männerstimmen. Ein ambitionierter, fleißiger Kammerchor mit monatlichen Auftritten – demnächst im Weggental und Herrenberg.

Bei Zane Randall Stroopes achtstimmigem „Judaskuss” nach einem Gedicht des späteren NS-Poeten Josef Weinheber wechselt das blaugraue Scheinwerferlicht zu Blutrot. Eine effektvolle, gewagte Komposition. Das Wort „Kuss” fährt in enge Cluster-Tonballungen zusammen. Entsetzt aufgerissene Dissonanzen und krachendes Stampfen auf die Podeste. Zuletzt ein bisschen too much – wird ein Beutel mit „Silberlingen”, der „Judas-Lohn”, zu Boden geworfen.

Das experimentellste Stück ist „Numbers” der jüngsten Komponistin im Programm: Shruthi Rajasekar, Jahrgang 1996. Drei Zahlensysteme werden musikalisch umgesetzt: das babylonische, das im Dutzend und in 60er-Einheiten denkt (daher Zifferblatt und Kompassrose), das Dezimalsystem und der binäre Computer-Code 0 und 1 in morsenden kurz-lang-Impulsen. Rhythmisch überlagerte Schichten wie hörbar gemachte Datenströme. Am Ende ein Abwärts-Glissando, als ob man den Stecker zieht und der Rechner abstürzt.
An den Ruhepunkten wird das Scheinwerferlicht Magenta-Rot und Waldmeister-Grün: Matthew Harris’ Shakespeare-Walzer „Tell me where is fancy bred” und Howard Skemptons „More sweet than my refrain”, schön in seiner mantraartig kreisenden Schlichtheit.

Auch sprachlich ist Vokalkunst gern global unterwegs, diesmal Baskisch (Josu Elberdins „Cantate Domino”) und Rätoromanisch (Flavio Bundis „Il Grond Silenzi”, die große Stille auf einem Berggipfel, von den Sopranspitzen bis hinab in die Bass-Täler). Gegenüber der jüngeren Generation fallen die neotonalen „Altmeister” Rutter und Whitacre etwas ab: „Dashing Away with the Smoothing Iron” (die Angebetete dampft mit dem Bügeleisen ab) und „With a Lily in your Hand”. Zuletzt „Prometheus” des Kanadiers Kristopher Fulton: ein Sprung vom Olymp herab mit brennender Fackel, zischendem „sch” und knallend geerdeter Punktlandung. Beifallsjubel.

Quelle: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Prometheus-Fackellauf-623114.html

Dr. Achim Stricker, Reutlinger General-Anzeiger, Reutlingen, 18. März 2024

Kammerchor Vokalkunst