Der Kammerchor Vokalkunst sang Adventliches im ausverkauften Tübinger Silchersaal.
Tübingen. Hier wird professionell konzertiert und Musik ernst genommen. Am Einlass wurden die Zuhörer gebeten, ihre (schallschluckenden) Jacken und Mäntel an der Garderobe abzugeben – für optimale akustische Bedingungen im komplett ausverkauften Silchersaal. Im Konzert dann die Bitte, den Applaus aufzusparen und sich während des Konzerts möglichst wenig zu bewegen, weil das Saalparkett vernehmlich knarzt. Das kann man überstreng und pingelig finden. Aber im Verlauf der Konzertstunde stellten viele der 220 Zuhörerinnen und Zuhörer fest, dass man ohne den gewohnten Publikums-Aktionismus wesentlich achtsamer und aufmerksamer zuhört. Wirklich zuhört. Dass ohne ständig unterbrechenden Beifall der Spannungsbogen erhalten bleibt und ein umso konzentrierteres Musizieren ermöglicht. So tauchte man immer tiefer ein. Wahre Klang-Meditationen. Zudem war die übliche Saalbestuhlung umgedreht: Der Chor sang mit der Fensterfront im Rücken, was dem Klang klarere Konturen gab.
Hochpräziser Chorklang
Vokalkunst startete bei seiner Gründung im Januar 2023 gleich auf einem schwindelerregend hohen Niveau und avancierte in wenigen Monaten zum Geheimtipp. Ein sensationell reiner, intonationssicherer, hochpräziser Chorklang, aktuell 17 Stimmen stark. Alles wird hier hörbar gemacht: jede noch so kleine rhythmische Verschiebung, jeder einzelne Ton einer Cluster-Ballung. Eine so detailreiche exakte Transparenz, dass Superlative kaum ausreichen. Chorgründer Daniel Radde formt den Klang mit organisch fließendem, suggestivem Dirigat, fordert und entflammt sein Ensemble zu einer rückhaltlosen sängerischen Hingabe.
Für den Zweiten Advent hatte Radde wieder neues und neustes Chor-Repertoire recherchiert, darunter Arvo Pärts „Morning Star“, Andrej Makors „O magnum mysterium“ und Betty McGlades „See amid the Winter’s Snow“. Eric William Barnums humoristisches „Carol of the Angels“ kontrastierte hektische Weihnachtsgeschäftigkeit und zeitlos entrückte Engelssphären. In James MacMillans „O radiant dawn“ öffnete sich ein sakral strahlendes Sonnenaufgangs-Crescendo in magischen Lichtbrechungen. Jan Sandströms „Es ist ein Ros entsprungen“ war ein klanggewordenes Weihnachtswunder, der Praetorius-Choral eingebettet in eine Polarlicht-Aura aus Cluster-Prismen. Ebenso eindrucksvoll Henryk Góreckis „Totus Tuus“: ein geballter Kristallklang, der in schier endlosen, immer leiseren Maria-Rufen verebbte. Zuletzt Bec Tines „Jubilate Deo“ mit rhythmisch donnerndem Stampfen und Klatschen. Mit dem Schlussakkord brach tosender Beifall aus.
Dr. Achim Stricker, Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 11. Dezember 2024