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Dornwald 2.0

Das Ensemble Vokalkunst singt allerneustes Advents-Repertoire.

Tübingen. Sie sind echte Senk­rechtstarter. Am 18.Januar rief Da­niel Radde sein Ensemble „Vokal­kunst“ ins Leben. Seither hat Tü­bingens neuer, höchst rühriger Kammerchor in seinem ersten Jahr bereits über 15 Auftritte hingelegt, mit stetig wachsender Fan­gemeinde. Das Konzert am Sams­tag in der Lustnauer Petruskirche war gut besucht, der Silchersaal des Museums am Zweiten Ad­ventssonntag mit rund 140 Zuhö­rern vollbesetzt.

Vokalkunst ist ein Entdecker­-Ensemble, auf der Suche nach al­lerneustem A-cappella-Reper­toire aus der internationalen Chorszene. Unter den Advents­- und Weihnachts-Chorsätzen aus England, Schottland, Lettland, Slowenien, den USA, Schweden und Deutschland war wieder manche Tübinger Erstaufführung.

Licht in großer Finsternis
Bei Adrian Peacocks „Venite, gau­dete!“ fächerten die zwölf Frauen-­ und zehn Männerstimmen mit minimalistisch kreisenden Ostina­to-Motiven und irisierenden Clus­ter-Tonballungen einen Klang-Pa­ravent in psychedelischen Regen­bogen-Farben auf. In Rihards Du­bras „Stetit Angelus“ ließ ein En­gel Weihrauch aufsteigen, der zu­letzt – Klang geworden – mit weich zischendem „sch“ und Atemgeräusch mitten durch den Schlussakkord ins Publikum strömte.

Am beeindruckendsten James MacMillans „O Radiant Dawn“ („Oh strahlende Morgenröte“): Mit jedem Ruf „Come! Come! Co­me!“ („Come, shine on those who dwell in darkness“) schwoll das Crescendo weiter an, immer noch stärker aufgeladen, noch höher aufgetürmt, in immer schärferen Dissonanz-Spannungen, bis das übergroße Licht in die Finsternis hereinbrach.

Chorleiter Daniel Radde, der in Tübingen Theologie und Literaturwissenschaft stu­diert, hat als Schüler in der preis­gekrönten Altensteiger Christo­phorus-Kantorei eine profunde sängerische Ausbildung erhalten und anschließend in Karlsruhe Gesang studiert. Die künstleri­sche Handschrift der Christopho­rus-Kantorei zeigt sich in der zeit­genössischen Repertoire-Auswahl und auch am Klangaufbau.

Im Programm dominierten ak­tuelle „neotonale“ Komponisten, die nach der atonalen Avantgarde wieder recht traditionell in Dur und Moll schreiben – wie Becky McGlades Carol „See amid the winter ’s snow“. Darunter Neufas­sungen und Remix-Collagen be­kannter Liedmelodien wie Clau­dia Reinhards „Vom Himmel hoch, o Englein kommt“, Reiko Fütings „Maria durch ein Dorn­wald ging“ oder Wolfram Bu­chenbergs „0 Freude über Freu­de“, die alle drei in ihrer etwas verkopften, spröden Konstrukti­vität kompositorisch weniger überzeugten. Die beiden einzigen älteren Bezugspunkte im Pro­gramm waren Max Reger („Schlaf, mein Kindelein“) und Erhard Mauersberger („Weih­nacht“).

Die klangsinnlichste postmo­derne „Übermalung“ war Jan Sandströms „Es ist ein Ros ent­sprungen“. Der vierstimmige ba­rocke Choralsatz von Michael Praetorius – gesungen von einem solistischen Quartett – wird ein­gebettet in betörend schöne, ge­summte Chor-Harmonien, die polarlichternd changieren: ein Wunder – wie die besungene Blü­te mitten im kalten Winter.

Rhythmisch interessant Dami­jan Mocniks „Acclamatio“ und Steven Sametz‘ „Gaudete!“ mit übermütig verzerrten Harmonien“ und durch den Takt gewürfelten Betonungen. Die Zugabe: „We wish you a merry Christmas“ in einem Arrangement von Arthur Warrell. Ein Kammerchor mit großem Potential, der sich auch an Experimentelleres und Aton­aleres heranwagen dürfte.

Quelle: Dr. Achim Stricker, Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 12. Dezember 2023